Es gibt nicht die eine Definition dafür, die Fachwelt ist sich nicht einig und entwickelt immer wieder neue Ansätze und Konstrukte1. Letztlich muss man für sich selbst entscheiden, welches Modell man am sinnvollsten findet. Man sollte sich jedoch auf jeden Fall ein wenig damit beschäftigen, weil man sonst vieles nicht richtig einschätzen kann: z.B. ob man sein Kind testen lassen sollte, von wem, in welchem Alter, mit welchem Test, was das Testergebnis bedeutet, wie man mit LehrerInnen oder ErzieherInnen über welches Ergebnis spricht usw…
Die Definition, die die meisten Leute für „Hochbegabung“ im Kopf haben, ist: Hochbegabt ist jemand, wenn er/sie in einem anerkannten IQ-Test einen Wert von 130 oder mehr erzielt. Das erreichen um die 2-3% aller Menschen, während zwei Drittel zwischen 85 und 115 Punkten landen2. Dass ausgerechnet bei 130 der „cut“ gemacht wird, ist letzlich willkürlich. Deshalb sollte abhängig von der Basis (Begabungsmodell, Intelligenzbegriff, s. unten) und der Fragestellung eines IQ-Tests (Entscheidungshilfe vorzeitige Einschulung? Überspringen? Bestimmte andere Fördermaßnahme sinnvoll?) dessen Ergebnis interpretiert werden3.
Eindimensionales Begabungsmodell:
„hohe Intelligenz = Hochbegabung“
Innerhalb dieses Begabungsmodells wird Intelligenz schlicht mit Begabung gleichgesetzt. Dies ist die historisch älteste Sichtweise. Und diese ist auch am einfachsten messbar und damit wissenschaftlich zu überprüfen. „Intelligenz“ ist allerdings auch selbst ein Konstrukt, das keine allgemein anerkannte Definition hat, sondern je nach Blickwinkel (z.B. forschende Fachrichtung) unterschiedlich gesehen werden kann.4 Sie spielt jedoch in allen Hochbegabungsmodellen eine wichtige Rolle5.
Mehrdimensionale Begabungsmodelle:
„hohe Intelligenz + weitere Faktoren = Hochbegabung
Die Formel „hohe Intelligenz = hohe Begabung“ wird heutzutage von den meisten Fachleuten als zu vereinfachte Sichtweise von Hochbegabung abgelehnt. Stattdessen wurden mehrdimensionale Hochbegabungsmodelle entwickelt (z.B. Drei-Ringe-Modell von Renzulli, Differenziertes Begabungs- und Talentmodell von Gagné, Münchener Hochbegabungsmodell von Heller, Perleth, Hany -> alle diese und noch mehr hier in einem pdf zusammengefasst, mit graphischen Darstellungen). Diese gehen davon aus, dass eine hohe Intelligenz zur hohen Begabung zwar zwingend dazu gehört, dass aber noch einige weitere Faktoren hinzukommen müssen, damit von „Hochbegabung“ gesprochen werden kann.
Weitere Faktoren werden z.B. gesehen in Persönlichkeitsmerkmalen (wie Leistungsmotivation, Ausdauer, selbstregulative Fähigkeiten, Sozialverhalten, Anstrengungsbereitschaft/Frustrationstoleranz), familiärer und sonstiger Lernumwelt (wozu z.B. auch Kultur gehören kann). Auch werden nicht nur die Fähigkeiten betrachtet, die zur Intelligenz gezählt werden (als Intelligenzfaktoren werden z.B. im „CHC-Modell“6 betrachtet: fluide Intelligenz, kristalline Intelligenz, Lese-und Schreibfähigkeit, Kurzzeitgedächtnis, visuelle Verarbeitung, auditive Verarbeitung, Langzeitspeicher und -abruf, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Entscheidungsgeschwindigkeit/Reaktionszeit), sondern z.T. auch solche, die wie Kreativität, ein besonderes Riechvermögen (es gibt auch geniale ParfümeurInnen) oder besondere soziale Fähigkeiten, Sportlichkeit und Musikalität nicht so leicht eingegrenzt und getestet werden können.
Das Problem bei diesen mehrdimensionalen Modellen ist, dass man vieles nicht wissenschaftlich messen und vergleichen kann. Zum Verständnis von Hochbegabung und zur Frage, warum manche sehr begabte Menschen auch sehr viel leisten und andere nicht, sind sie jedoch gut geeignet. Auch helfen sie dabei, wenn es darum geht, geeignete Fördermöglichkeiten zu suchen.
„Hochbegabung = Hochleistung“ kontra
„Hochbegabung = Potenzial für hohe Leistung“?
Neben den ein- bzw. mehrdimensionalen Sichtweisen von hoher Begabung gibt es auch zwei konträre Perspektiven je nach dem, „was dabei herauskommt“: Es gibt Begabungsmodelle, in denen hohe Begabung mit hoher Leistung gleichgesetzt wird („Perfomanzmodelle“) und solche, die Begabung als reines Potenzial betrachten, das sich in hervorragenden Leistungen verwirklichen kann aber nicht muss („Kompetenzdefinitionen“). Interessanterweise werden die Kompetenzmodelle idR bei Kindern und Jugendlichen als zutreffend betrachtet, während junge und ältere Erwachsene eigentlich immer konkrete Leistungen vorweisen können müssen, an sie also Perfomanzmaßstäbe angelegt werden, um z.B. eine Förderung zu erhalten (Stipendien oÄm).
Vor dem Hintergrund dieser Modelle ist es nachvollziehbar, dass die stark verkürzte und zu enge Definition von Hochbegabung als „IQ von 130 oder mehr“ sich immer noch so hartnäckig hält. Das ist bei allen Schwächen, derer sich Fachleute bewusst sind, immer noch die Komponente von Hochbegabung, die am zuverlässigsten feststellbar und wissenschaftlich vergleichbar ist. Eltern und ErzieherInnen, Schulleitungen und LehrerInnen sollten aber wissen, dass sie eben nur eine „Krücke“ und zu wenig ist, um Hochbegabung zu beschreiben. Leider fehlt dieses Wissen bei vielen Personen. Insbesondere glauben viele Menschen den Hochbegabten, die nicht gleichzeitig Hochleister sind, ihre besondere Begabung oft nicht. Entsprechend schwieriger ist es dann für diese, Unterstützung für die Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu bekommen.
Diagnostik von Hochbegabung ist abhängig vom Begabungsmodell
Nachvollziehbar wird mit diesem Hintergrundwissen auch, dass die Diagnose von Hochbegabung davon abhängig ist, welches Begabungsmodell man favorisiert, und welches Verständnis von Intelligenz man hat. Je nachdem, was man unter Intelligenz versteht, wird man einen IQ-Test konstruieren, um die Komponenten zu messen, die man für essentielle Bestandteile von „Intelligenz“ hält. Und je nachdem welchem Begabungsmodell man folgt, wird man zusätzliche (Verhaltens-)Beobachtungen und ggf. auch Schulnoten oder weitere Testergebnisse für wichtig erachten und in die Beurteilung einbeziehen oder nicht.
Gruppentests weniger aussagekräftig – Auswahl des Tests entscheidet mit über Ergebnis – Tests haben Schwächen – Tagesform schwankt
Wenn man darüber hinaus weiß, dass IQ-Tests weniger aussagekräftig sind, wenn sie als Gruppentests7 abgehalten werden, dass es entscheidend auf die Inhalte des Tests8 ankommt, welches Ergebnis man erzielt (z.B. schneiden Menschen mit hoher Sprachkompetenz in non-verbalen Tests natürlich schlechter ab)9, dass im WISC-V auffallend häufig sehr begabte Kinder schlechtere Werte beim Indexpaar „Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit“ erzielen10, dass Schwankungen im Ergebnis je nach Tagesform, Testsituation und Tester möglich sind11, dann wird klar, dass es eigentlich völlig egal ist, ob ein Mensch 135 oder 123 Punkte im IQ-Test erzielt: Alle diese Personen können hochbegabt sein und Förderung brauchen.
Außerdem wird aus diesen Hintergründen deutlich, dass es sinnvoll ist, wenn ausgewiesene Experten, sog. Begabungsdiagnostiker, testen und keine unerfahrenen Personen (egal ob PsychologInnen oder SozialpädagogInnen).
Fussnoten:
1) Ein gut verständlicher und knapper Überblick findet sich hier: Franzis Preckel/Miriam Vock, Hochbegabung, S. 18ff., oder hier: Birgit Behrensen/Claudia Solzbacher, Grundwissen Hochbegabung in der Schule, S. 22ff.
2) Vgl. James T. Webb, Hochbegabte Kinder, S. 32f.
3) Vgl. Preckel/Vock, aaO, S. 104.
4) Vgl. Preckel/Vock, aaO, S. 27 ff.
5) Preckel/Vogt, aaO, S. 98; „…das Kernkonstrukt intellektueller Hochbegabung (ist) stets die Intelligenz.“
6) Preckel/Vogt, aaO, S. 30f.
7) Vgl. James T. Webb, aaO, S. 430Ff: Grund sind u.a. die weniger gut geeigneten Tests (hier am Bsp. der in den USA verwendeten Tests), aber auch die Tatsache, dass Tester sich nicht auf einzelne Kinder und ihre Bedürfnisse einstellen können; vgl. auch Preckel/Vock, aaO, S. 101f.
8) Die KARG-Stiftung hat eine Übersicht zu vielen gängigen IQ-Tests auf ihrer Internetseite (Link). Auch Preckel/Vogt haben eine Übersicht, aaO, S. 106ff.
9) Preckel/Vogt, aaO, S. 101: „…dass die Wahl eines bestimmten Intelligenztests maßgeblich darüber mit entscheidet, wer als hochbegabt bezeichnet wird.“
10) Preckel/Vogt, aaO, S. 114.
11) Vgl. Jüling, Inge & Lehmann, Wolfgang Zur Diagnostik von Hochbegabung (pdf zum Download); Preckel/Vogt, aaO, S. 103.