Wenn eine Begabungsdiagnostik stattgefunden und ergeben hat, dass ein Kind sehr begabt ist, ist das für viele Eltern zunächst eine Erleichterung. Dabei spielt es keine Rolle, ob die „magische Grenze“ von 130 im Gesamt-IQ geknackt wurde oder nicht – mit 125 oder 135 sehen die Denkweisen und Herausforderungen ähnlich aus (vgl. meinen Text dazu hier).
Ich hatte z.B. das diffuse Gefühl, nun endlich eine Erklärung für manche Probleme meiner zweitältesten Tochter in der Schule zu haben. Allerdings bekam ich von der Testpraxis wenige Hinweise dazu, was ich mit meinem neuen Wissen über mein Kind konkret tun könnte. Auch den Problemen, die uns ursprünglich in diese Praxis geführt hatten, wurde nicht so konkret mit Lösungsvorschlägen begegnet wie ich mir das erhofft hatte.
Das kann bei anderen „Teststellen“ anders sein – ich hoffe es für alle Eltern, die dort hingehen. Aber häufig erhält man eben auch nur ein relativ kurzes Gespräch und ein übersichtliches, schriftliches Gutachten, in dem die einzelnen Ergebnisse in den verschiedenen Bereichen des IQ-Tests genannt werden und ein bisschen erklärt wird, wie der Test aufgebaut ist, was in den einzelnen Bereichen geprüft wird. Und dann tun sich viele weitere Fragen auf.
Aus dem Testergebnis ergeben sich viele Fragen für Eltern
– Was mach ich jetzt mit diesem Ergebnis? Woher bekomme ich tiefergehende Informationen über Hochbegabung?
– Sage ich es dem Kind, den Geschwistern, den Großeltern? Und wenn ja: mit konkreter Zahl oder ohne?
– Muss ich in meiner Erziehung nun etwas anders machen als bisher?
– Braucht mein Kind Förderung? In welchem Bereich? Kann ich das selbst machen oder muss ich mich dafür an ExpertInnen wenden? Wer könnte das sein?
– Welche Förderung ist sinnvoll?
– Wo bekomme ich ggf. Beratung, um herauszufinden, was für mein(e) Kind(er) gut ist?
– Unser Geld oder unsere Zeit ist knapp, aber ich möchte meine Kinder so gut wie möglich unterstützen – was tun?
Und auch im Hinblick auf das größere Umfeld der Familie gibt es Fragen, insbesondere:
– Soll ich mit der Kita/Schule über das Testergebnis sprechen? Auf jeden Fall oder nur falls Probleme auftreten? In welchem Rahmen – mit wem von der Schule (KlassenlehrerIn, Schulleitung?), allein, beide Eltern zusammen oder am besten noch in Begleitung einer unabhängigen Person? Möchte ich etwas Bestimmtes von Kita/Schule – wie genau sehen meine/unsere Wünsche aus (Gesprächsziel)?
Im Folgenden beantworte ich zunächst die oben gefetteten Fragen.
Beiträge zu den anderen Fragen werden in den nächsten Wochen in loser Folge veröffentlicht werden.
Sollte man dem Kind das Ergebnis mitteilen?
Ja, das sollte man meiner Meinung nach unbedingt tun – aber ohne konkrete Zahlen.
Die Zahlen sind – wie weiter oben beschrieben – nicht erheblich, wenn man sich mit den Möglichkeiten und Grenzen von IQ-Tests und einer Begabungsdiagnostik insgesamt vertraut gemacht hat. Natürlich kann man diese ganzen Informationen auch einem älteren hochbegabten Kind oder Jugendlichen zugänglich machen, und sie würden verstanden werden. Dennoch würde ich es vermeiden, den Gesamt-IQ oder die einzelnen Unterergebnisse z.B. des WISC-V mit dem getesteten Kind/Jugendlichen zu teilen. Insbesondere wenn es Geschwister gibt – egal ob auch getestet oder nicht – finde ich die Gefahr zu groß, dass damit „hausieren“ gegangen wird oder dass sich die Geschwister im Eifer des Gefechts ihre Ergebnisse um die Ohren hauen, um den anderen zu ärgern. Zahlen suggerieren auch (zu) einfache Erklärungen – wenn z.B. nur ein Bereich besonders hoch ausfällt, die anderen eher nicht.
Wichtig für ein Kind oder einen Jugendlichen ist es aber, zu wissen, dass das Ergebnis „hochbegabt“ lautet. Auch das Begabungsprofil, das manche IQ-Tests ermöglichen, ist u.U. Interessant für das Kind und kann es u.U. motivieren oder rückversichern. Man kann also meiner Meinung nach gut zu einem Kind sagen, dass es besonders im sprachlichen Bereich oder im logischen Denken Stärken habe bzw. dass es in allen Bereichen sehr begabt sei.
Viele spät erkannte Hochbegabte berichten, dass für sie das Ergebnis „hochbegabt“ ein Aha-Erlebnis gewesen sei und im Nachhinein vieles verständlicher gemacht habe: Insbesondere das Gefühl, „anders“ zu sein als viele andere Menschen, nicht „hineinzupassen“ haben viele dieser Menschen erlebt und können es sich mit dem Wissen um ihre besondere Begabung endlich besser erklären. Das macht Einsamkeit zwar nicht automatisch gut – aber nachvollziehbarer. Natürlich bringt das Wissen manchmal auch Trauer um verpasste Chancen und unnötige Unsicherheiten mit sich. Aber es kann auch neuen Mut und Selbstbewusstsein geben. Spät erkannte Hochbegabte bedauern es in der Regel, nicht früher über ihre Begabung Bescheid gewusst zu haben.1
Deshalb: Die Kinder sollten das Testergebnis erfahren. Außerdem bietet es sich an, dem Kind oder Jugendlichen altersentsprechend (bzw. im Fall von Hochbegabten ist es eher „entwicklungsentsprechend“) zu erklären, was es bedeutet „hochbegabt“ zu sein.
Dafür ist der Rennwagen-Vergleich nützlich:
Hochbegabte sind wie Formel-1-PilotInnen mit entsprechenden Rennwagen. Sie besitzen eines der besten Autos der Welt mit allem Pipapo (=Begabung) – aber sie müssen erst noch lernen, damit zu fahren (=ihre Begabung zu nutzen). Das ist gar nicht so einfach: Die Technik im Bolliden (Denkfähigkeit) ist nämlich deutlich anders als in den für den normalen Alltagsverkehr konstruierten Pkw. Sie ist auf Höchstleistungen ausgelegt.

Das Cockpit hat viele, viele Knöpfe (verschiedene Bereiche der Begabung), die dazu dienen, das Beste aus dem Wagen rauszuholen – aber man muss wissen, wann und wie viel man welchen drücken bzw. drehen muss. (Bei manchen fehlt auch der ein oder andere Knopf.) Das beherrschen junge Hochbegabte zum Teil intuitiv oder lernen es durch Ausprobieren. Manchmal treten dabei jedoch Schwierigkeiten auf, z.B. kommt man noch nicht an alle Knöpfe so gut dran, wenn man noch zu kurze Arme hat (jüngere hochbegabte Kinder können motorisch noch nicht so viel wie ihr Kopf). Oder die langsameren Autos lassen einen nicht vorbei (Kinder werden ausgebremst durch andere Kinder oder ErzieherInnen/LehrerInnen/Eltern).
Und es gibt noch weitere Schwierigkeiten: z.B. ist die Lenkung von Rennwagen sehr empfindlich (viele hochbegabte Kinder sind sehr sensibel) – sie reagiert schon bei kleinsten Bewegungen (Lärm im Klassenzimmer, grelles Licht, kratzige Kleidung z.B.). Außerdem muss man lernen, wie viel Gas (Begabung zeigen) man in welcher Umgebung (Familie, Freunde, Kita, Schule) geben kann oder sollte, ohne einen Unfall (Ausgrenzung/Mobbing, Schulangst, Depressionen, Underachievement….) zu verursachen.
Schließlich kann man auch mit einem Rennwagen gemütlich durch die Lande tuckern (nur mittelmäßig gut in der Schule sein), über Landstraßen fahren (eine weniger herausfordernde Schule besuchen) oder in mittlerem Tempo (nicht die volle Leistungsmöglichkeiten zeigend) auf der Autobahn (stärker herausfordernde Schule) unterwegs sein. Man wird in beiden Fällen ans Ziel kommen – die Frage ist immer, wie zufrieden und glücklich man dabei ist. Manche möchten auch mal so richtig aufs Gas drücken (ihre volle Leistungsfähigkeit ausschöpfen) und bei der Formel-1 mitfahren und am besten gewinnen – dafür muss man trainieren (Lernen lernen, üben) und auf Spezialstrecken fahren (gute Förderung in der Schule erleben oder z.B. Schnelllernerklassen oder Schulen mit besonderer Begabtenförderung besuchen).
Wer nicht weiß, dass er PilotIn eines Rennwagens (= hochbegabt) ist, läuft natürlich recht große Gefahr, in einen Unfall verwickelt zu werden. Denn er/sie fährt ja mit völlig falschen Vorstellungen seines fahrbaren Untersatzes und dessen Technik durch die Gegend.

Sollten die Geschwister das Ergebnis erfahren?
Das kommt einerseits ein wenig auf das Alter/den Entwicklungsstand der Geschwister an, andererseits darauf, ob sie auch getestet wurden oder werden sollen und welches Ergebnis dabei herauskam/kommt.
Wenn die Geschwister älter als ungefähr fünf sind und auch getestet werden und ebenfalls „hochbegabt“ sind, was häufig der Fall ist, dann sollten sie es untereinander wissen (wiederum ohne konkrete Zahlen).
Wenn die Begabungen unterschiedlich verteilt sind, also ein Kind „hochbegabt“ ist, das andere nicht, finde ich es auch besser, das Ergebnis des hochbegabten Kindes in der Familie zu besprechen als ein Geheimnis daraus zu machen. Denn dieses Thema wird die Familie in vielen Fällen noch weiter beschäftigen – zumal es häufig erst zu einer Testung kommt, wenn Probleme auftauchen. Da das Testergebnis allein noch keine Lösung der Probleme bedeutet, wird sich an sie meist die Suche nach der richtigen Förderung uÄm anschließen. Das bleibt Geschwistern nicht verborgen.
Es ist natürlich schwierig, wenn ein Kind z.B. aufgrund der hohen Begabung Zugang zu attraktiven Zusatzkursen oder Sommercamps hat, das Geschwisterkind jedoch nicht. Doch nicht immer sind Nachweise von Testergebnissen zwingend nötig: Z.B. bietet Mensa Deutschland Sommercamps für Kinder und Jugendliche an, für die kein Nachweis der hohen Begabung erforderlich ist2. Für andere Veranstaltungen (z.B. Sommerakademien) benötigt man z.B. Emfehlungsschreiben von LehrerInnen: die kann man nach einem Gespräch mit den LehrerInnen idR auch ohne Nachweis erhalten, wenn ein Kind sehr motiviert ist. Man hat also die Möglichkeit, ggf. auf solche Angebote auszuweichen, wenn ein Geschwisterkind unbedingt ebenfalls so einen Kurs mitmachen möchte.
Sollte man in der Familie über das Ergebnis sprechen –
und wie ist es außerhalb?
Das kommt sehr auf das Klima in der Familie und unter Bekannten/Freunden an. Insofern gibt es dafür keine Empfehlung, die allgemeingültig sein kann.
Wenn ein offenes, bildungsfreundliches Klima herrscht, wird man darüber sprechen und ggf. sogar die Großeltern oder einen (Paten-)Onkel in die Förderung des/der hochbegabten Kindes/r einbeziehen können. Sie sind u.U. ja selbst hochbegabt und können ihr Wissen auf Spezialgebieten oder ihre Lernleidenschaften an die Kinder weitergeben. Großeltern können so eine Art MentorInnenrolle einnehmen.
Allerdings haben sich die Vorstellungen über Hochbegabung und die damit assoziierten Dinge stark verändert in den letzten Jahrzehnten. Das sollte man in die Rechnung mit einbeziehen, bevor man beginnt, in der Familie oder mit Freunden über das Thema zu sprechen.
Es sollte einem immer bewusst sein, dass das Thema Hochbegabung für viele Menschen starke Konnotationen hat, die nicht unbedingt auf Wissen basieren. Es gibt durchaus Unterschiede zwischen den Generationen und auch kulturelle Unterschiede: z.B. zwischen Menschen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind (wo Begabte eher stärker gefördert wurden, aber nicht vorranging um ihrer selbst willen, sondern um dem Staat zu Ehre zu verhelfen), und den „Wessis“, die Begabtenförderung bis weit in die 90er Jahre eher selten erlebt haben dürften. Denn in der ehemaligen BRD hatte „Eliteförderung“ keinen guten Ruf, vor allem nicht unter Linken. Auch in den USA wird Begabtenförderung ganz anders gesehen als hierzulande… Darum lohnt es sich, sich vor einem Gespräch ein paar Gedanken zu machen, wie wohl der Gesprächspartner zum Thema Hochbegabung eingestellt sein könnte und wie man dieser Haltung ggf. begegnet.
Fussnoten:
1 Vgl. z.B. viele Lebensgeschichten von hochbegabten Frauen in „Kluge Mädchen. Frauen entdecken ihre Hochbegabung“, Katharina Fietze, S. 44: „Nicht erkannte Hochbegabung tut weh. Man steht gleichsam vor einem blinden Spiegel und sieht sich nicht. Mehr als vier Jahrzehnte vergingen, bevor ich von meiner Hochbegabung erfuhr. Da war mir, als würde ich aus einer Narkose erwachen. Endlich erfuhr ich, wer ich war, und entdeckte den roten Faden in meinem Leben. Eine Zentnerlast fiel von meinen Schultern. Ich hörte auf, mich dümmer zu stellen als ich war und litt nicht mehr darunter, nirgendwo dazuzugehören.“