„Immer mehr ganz Du“ – ein Buchtipp

Foto: Pexels/cottonbro

18.03.2022 – Gestern abend gab es bei uns einen Familiencrash: Ich hatte den ganzen Tag schon ein schlechtes Gefühl gehabt, mich völlig überflüssig gefühlt. Und als nach dem Abendessen die Teenager einfach aufstanden und sich wortlos verdünnisieren wollten, ist mein Mann sehr sauer geworden. Alles endete in Geschrei und Tränen. Vermutlich kam viel zusammen… aber etwas Gutes ist danach doch noch passiert: Ich habe ein Paket mit „Immer mehr ganz Du“ von Kirsten Holtmon Resaland und Astrid Nylander Almaas geliefert bekommen.

Gute Selfhelp-Books sind rar – das hier ist eins

Ich hatte das Buch bei einer anderen Bücherbestellung online gesehen und war neugierig geworden. Selfhelp-Books sind ja schon länger sehr erfolgreich, aber ich bin oft misstrauisch: Wenn die AutorInnen so tun, als wäre ihr Ansatz der einzig wahre, oder wenn die Inhalte eher esoterisch sind als Hand und Fuss zu haben, dann kann ich nichts damit anfangen. Solche Bücher können viel Schaden anrichten. Gerade bei leicht beinflussbaren und häufig verunsicherten Menschen wie es Jugendliche ja oft sind. Zum Glück ist „Immer mehr ganz Du“ überhaupt nicht einseitig oder missionarisch – ganz im Gegenteil.

„Lexikon der Jugend“

Es ist ein durch und durch gelungener Ratgeber (das sieht z.B. auch der Deutschlandfunk so). Jugendliche finden hier ausgewogene Informationen, konkrete Tipps, die nicht bevormunden, und weiterführende Anlaufstellen, falls sie mehr Informationen oder Hilfe benötigen. Das Buch ist eine Art „Wikepedia der Jugend“ und der verschiedenen Herausforderungen, denen sich Jugendliche heute gegenüber sehen: Von der Selbstfindung bis zu Essstörungen oder der Frage, was eine „Therapie“ überhaupt ist, was man tun kann, wenn man ein schlechtes Gewissen hat und wieso es normal ist, als JugendlicheR wütend zu sein.

Das Buch „Immer mehr ganz du“ ist für Jungs und Mädchen gleichermaßen geeignet. Foto: Pexels/Artem Podrez.

Es gibt insgesamt zehn Kapitel, die alle für sich stehen. Man kann das Buch also kreuz und quer lesen oder einfach etwas nachschlagen, das einen interessiert. Die Themen sind einerseits „Klassiker“ wie z.B. „Unser Körper“ (Kapitel 3) sowie „Sex“ (Kapitel 4) oder „Wer bist du“ (Kapitel 1) und „Gefühle“ (Kapitel 6). Alle Teenies (und sicher auch noch einige Erwachsene) beschäftigen sich mit Fragen dazu. Aber es gibt auch Kapitel, die vielleicht nicht jedeR AutorIn mit aufgenommen hätte: So behandelt Kapitel 8 „Schwere Zeiten“, Kapitel 9 „Psychische Krankheiten“ und Kapitel 10 „Wie du die Welt siehst“. In letzterem werden z.B. die Themen „fake news“, „Verschwörungstheorien“ sowie „Horoskop“ und „Wird die Welt untergehen“ angesprochen.

Alles wird an- und ausgesprochen – auch Schwieriges

Jedes Kapitel ist noch einmal in verschiedene Abschnitte bzw. Fragen gegliedert, die im Inhaltsverzeichnis aufgeführt werden und eine Idee davon vermitteln, worum es konkret geht. Auch diese Abschnitte stehen im Prinzip für sich und können ohne Zusammenhang gelesen werden. Im Kapitel „Gefühle“ gibt es z.B. den Abschnitt „Wie können Gefühle Menschen zu Mördern werden lassen?“. Außerdem gibt es Abschnitte zu „Good Feelings“ und „Schlechte Gefühle“ sowie „Was wollen Gefühle?“. Die Autorinnen nehmen sich viel Zeit für die Betrachtung verschiedener Gefühlszustände: Freude, Stolz, Liebe, Eifersucht, Wut, Neid, Ekel, Verachtung, Enttäuschung, Angst, Traurigkeit, Verbitterung und auch Einsamkeit. Dabei nehmen sie nie ein Blatt vor den Mund. Auch nicht, wenn es um ungewöhnliche oder Tabu-Themen geht.

Infos, Einordnungshilfen, Checklisten, Tipps

Sie picken sich die Gefühle heraus, die für Jugendliche besonders wichtig sind, wie z.B. Liebe, und gehen dazu ins Detail. Und sie sprechen solche Gefühle genauer an, mit denen Jugendliche größere Probleme haben könnten (Wut, Angst). Sie erklären, was einzelne Gefühle im Körper auslösen und geben Tipps im Umgang mit ihnen. Manchmal steht am Ende eines Abschnitts ein Absatz mit dem Titel „Was ist normal?“ bzw. „Ab wann besteht Grund zur Sorge?“: Diese z.T. auch farblich abgesetzten Texte geben eine kurze Beurteilungshilfe, ob man vielleicht mehr Hilfe benötigt als sie das Buch geben kann. Meist ist ein Verweis auf die Seite im Buch enthalten, auf der man weiterführende Hilfsadressen findet.

Auch das Thema Kommunikation wird in vielen Facetten angesprochen. Foto: Pexels/mentatdgt

Die Autorinnen und ihre Herangehensweise

Dass das Buch so angenehm umfassend und so wenig unangenehm missionierend ist, liegt an den Autorinnen und ihrer Herangehensweise: Kirsten Holtmon Resaland ist „Spezialistin für klinische Kinder -und Jugendspsychologie“, so der Verlag. Astrid Nylander Almaas ist Fachärztin für Kinder- und Jugendkrankheiten und Chefärztin am Akershus Uniklinikum in Oslo. Die beiden haben sich aber nicht nur auf ihre eigene Expertise verlassen. Für viele Themen haben sie sich zusätzlich mit Spezialistinnen beraten. Und sie haben auch eng mit Jugendlichen zusammengearbeitet: Diese haben z.B. Kapitel probegelesen, Fragebögen dazu beantwortet und Vorschläge gemacht, was in dem Buch noch angesprochen werden sollte. Das merkt man dem Buch an. Die Autorinnen nehmen ihr Publikum ernst, behandeln die jugendlichen Leser nicht von oben herab, sondern eher wie wohlwollende „große Schwestern“ oder andere ältere Vertrauenspersonen.

Einige, wenige Kritikpunkte

Ein paar wenige – und nicht besonders schwerwiegende – Kritikpunkte habe ich:

Ich finde es schade und unpraktisch, dass es keinen Index gibt. So kann man z.B. das Thema „Trans“ oder „Homosexualität“ nicht einfach nachschlagen. Stattdessen muss man in verschiedensten Kapiteln suchen. Denn es könnte ja sowohl bei der Frage nach der eigenen Identität (Kapitel 1) als auch im Sex-Kapitel stehen, vielleicht aber auch bei „Gefühle“ oder „Schwere Zeiten“… Letztlich bin ich im fünften Kapitel („Wofür sollen wir uns entscheiden und wogegen?“, S. 133ff) und im sechsten Kapitel („Gefühle“, S. 150) fündig geworden. Aber es hat ganz schön lang gedauert – und die Seiten im fünften Kapitel habe ich auch erst beim erneuten Durchblättern entdeckt. Hier könnte der Verlag eindeutig bei der nächsten Auflage nachbessern.

Sprache betont jugendlich – nicht immer authentisch

Außerdem ist die betont „jugendliche“ Sprache für manche vielleicht etwas „cringe“ ;-). Das kann an der Übersetzung liegen. Oder daran, dass hier eben keine Jugendlichen schreiben, und es deshalb nicht ganz authentisch wirkt, wenn da steht: „Du denkst vielleicht, du seist ein Weirdo“ oÄm… Aber man liest sich schnell ein und nimmt es den Autorinnen nicht übel – ich als Erwachsene jedenfalls nicht.

Fehler – fehlende Worte

Last but not least: Ich bin über einige Fehler gestolpert (vergessene Worte meist), die bei genauerem Korrekturlesen sicher hätten vermieden werden können. Ich weiß, das klingt etwas kleinlich. Aber man stolpert beim Lesen an solchen Stellen. Und manchmal ist das ärgerlich, vor allem wenn man einen Abschnitt drei Mal lesen muss, um sicher zu sein, dass man nicht doof ist, sondern tatsächlich ein „nicht“ vergessen wurde, und deshalb alles keinen Sinn macht… Auch das sollte für die nächste Auflage – die es hoffentlich geben wird – verbessert werden.

Fazit

Unterm Strich empfehle ich das Buch trotz dieser kleinen Schönheitsfehler uneingeschränkt. Dieses Buch sollte meiner Meinung nach in jedem Teenie-Zimmer stehen (und auch in einigen LehrerInnen-Zimmern und bei Eltern auf dem Nachttisch).

Vom Alter her soll es übrigens nach Meinung des Verlages ab 12 Jahren passen. Das sehe ich ähnlich. – Ich habe nach dem ersten Exemplar noch zwei weitere bestellt: jedes meiner drei großen Kinder bekommt eins von mir (jeder eins, damit sie es auch zur Hand haben, wenn sie es gerade brauchen und nicht *peinlichpeinlich* einem Geschwister erklären müssen, warum sie es gerade jetzt haben wollen). Ich schätze, dass es zunächst von den beiden 16- bzw. 15jährigen gelesen werden wird. Aber auch der 11jährige kann sicher mit einigen Themen (z.B. Freundschaften) schon etwas anfangen.


Titel: Immer mehr ganz Du

Autorinnen: Kirsten Holtmon Resaland und Astrid Nylander Almaas

Erscheinungsjahr: 2020

Verlag: Gabriel

ISBN: 978-3-522-30602-7

Preis: 20 Euro


Toll finde ich: die Bandbreite der Themen und dass alles sehr lebensnah für heutige Jugendliche beschrieben wird.

Überrascht hat mich: wie spannend das alles zu lesen ist (auch für mich).

Hilfreich finde ich: die Erklärungen (z.b. von Gefühlen oder psychischen Krankheiten), Einordnungen „Was ist normal?“ (z.B. bezüglich des Körpers) und die konkreten Tipps (z.B. für Entspannungsübungen, den Umgang mit Fehlern und Kritik).

Vermisst habe ich: einen Index.

Was ich weniger gelungen finde: Die Sprache ist vielleicht ein bisschen „cringe“ für Jugendliche… 😉

Worüber ich gestolpert bin: einige Fehler im Druck.

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