17. März 2023 – (TRIGGERWARNUNG!!! Vor allem am Ende des Textes kommen evtl. Dinge vor, die manche Menschen verstören könnten!)
Die letzten Wochen waren außergewöhnlich. Sie waren traurig, schön, anstrengend, wichtig, erschreckend, tröstlich, aber auch schrecklich. Meine Mutter ist gestorben. Nach vielen Wochen im Krankenhaus und im Hospiz in Deutschland. Ich war bei ihr fast bis zum Schluss.
Dass meine Mutter in absehbarer Zeit sterben würde, wusste ich. Aber was heißt, kann ich immer noch nicht richtig begreifen. Sie hatte im Frühjahr 2021 die Diagnose „Krebs“ bekommen. Erst ein paar Monate vorher war sie in ihre alte Heimat nach Reutlingen in Süddeutschland zurückgezogen. Nach Jahrzehnten in NRW und Berlin. Sie hatte sich so auf die Schwäbische Alb gefreut, auf die Landschaft und das Essen, ihre Mundart.

„Jetzt habe ich mir vorgenommen, noch 80 zu werden“, sagte sie zu mir in einem Telefonat. Typisch. Sie setzte sich immer Ziele und verfolgte diese dann mit viel Biss.
Als ihre Eltern sie nicht aufs Gymnasium schickten, weil das damals (sie war Jahrgang 1946) bei Mädchen einfach nicht so wichtig war, erkämpfte sie sich auf dem zweiten Bildungsweg eine Hochschulausbildung: höhere Handelsschule, Bankausbildung, Lehrgang als Kunst- und Werklehrerin, parallel zur Berufstätigkeit die Vorbereitung zur Zulassungsprüfung fürs Lehramtsstudium, Stipendium beim Evangelischen Studienwerk Villigst, pädagogische Hochschule. Sie studierte Germanistik, wurde Lehrerin. Eigentlich wäre sie gern Ärztin geworden.
Als sie schon pensioniert war, entwickelte sie ein Leseförderprogramm für Grundschulkinder – „Pisakids“ -, und entwickelte es dann weiter zu einem Programm in neun Sprachen für Kinder mit Migrationshintergrund: AMIRA. Erst kurz bevor sie von ihrer Erkrankung erfahren hatte, überließ sie es dem Este-Verlag in der Hoffnung, dass man sich dort um die Modernisierung der Website und den Weiterbetrieb kümmern wird.

Die Diagnose meiner Mutter hieß zunächst Bauchspeicheldrüsenkrebs. Aber der Primärtumor wurde nie gefunden. Sie bekam Chemotherapie. Ich besuchte sie in Reutlingen, als wir im Heimaturlaub in Berlin waren im Sommer 2021. Sie besuchte uns in ihren „Chemo-Ferien“ im gleichen Jahr im Spätsommer in Schweden. Da konnte sie mit ihren Nordic Walking Sticks noch flott laufen und Essen war noch Genuss. Wir waren in Skansen und beim Artipelag, ließen uns schwedische „bulle“ (Zimtwecken) und Fischbrötchen schmecken.

Im Winter 2021/2022 fing sie an, sich Gedanken darüber zu machen, wieder in die Nähe von einem ihrer Kinder zu ziehen, meinem Bruder oder mir. Zunächst dachte sie an Berlin, wir schickten Immoscout-Anzeigen hin und her bis weit in den Februar. Aber im Mai geht es in den Mails plötzlich um eine Unistadt in Nordrhein-Westfalen (NRW), wo sie eine Wohnung anmieten möchte. Irgendwann in den Frühlingsmonaten 2022 muss klar geworden sein, dass ihre Zeit begrenzt ist. Dass sie angekommen sein muss, bevor ich wieder dauerhaft in Berlin sein kann, was erst im Sommer 2023 der Fall ist.
Meine Patentante kam aus Neuseeland nach Europa – ein letztes Mal, wie sie sagte – und half meiner Mutter beim Umzug.
Ich bin zeitgleich mit der Gesundheit meiner Kinder beschäftigt: Die älteste braucht therapeutische Unterstützung, weil sie mit sozialen Ängsten zu kämpfen hat. Psychologische Unterstützung im Ausland zu finden, ist eine besondere Herausforderung. Nicht nur weil die deutsche Krankenkasse verlangt, dass der schwedische Psychologe für die zwölf geplanten Sitzungen einen deutschen Antrag stellt. Auch weil sie das verlangt, obwohl zwölf Stunden Akutbehandlung in Deutschland ganz ohne Antrag bewilligt werden.
Parallel haben wir mit der Long-Covid-Erkrankung unserer Zweitältesten zu tun. Seit September 2021 kämpft sie mit Müdigkeit und Dauerkopfschmerzen, Konzentrationsproblemen und brainfog. Von September bis Dezember 2021 war sie kaum in der Schule. Ungefähr zu der Zeit, als meine Mutter nach Wohnungen in NRW sucht, lesen wir von der Behandlungsmöglichkeit „hyperbare Sauerstofftherapie“ (Pressemitteilung zu einer Studie dazu aus Israel).
Wir suchen Druckkammern in Deutschland, vergleichen Behandlungspreise, lesen medizinische Studien und überlegen, ob wir unserer Tochter eine solche Behandlung ermöglichen können. Mit hohem finanziellem Risiko, da die Therapie nicht anerkannt ist, und natürlich ohne sicher zu wissen, ob sie ihr helfen wird. Ausserdem muss die Schule überzeugt werden, damit sie vier Wochen beurlaubt wird. Freunde von uns müssen gefragt werden, ob sie sie in dieser Zeit bei sich wohnen lassen und sie betreuen (sie ist damals erst 15 Jahre alt). Ein Antrag bei der Krankenkasse muss gestellt werden (um ggf. später doch noch eine Unterstützung zu erhalten) usw…
Ich bin deshalb sehr froh, dass meine Patentante um die halbe Welt fliegt, um meiner Mutter zu helfen.
Im Sommer 2022 fahren wir wieder nach Deutschland und sehen auch meine Mutter in ihrer neuen Stadt. Sie hat es gut getroffen. Die Wohnung liegt sehr zentral, sie kann alles zu Fuss erledigen. Neuerdings hat sie einen Rollator.

Natürlich ist alles erstmal schlechter als in ihrer alten Heimat Süddeutschland – das war klar. So gut wie dort kann es nirgends sein. Aber dafür dass es NRW ist, ist es hier schon ziemlich gut. Die Stadt gefällt ihr, die Uni zieht einen interessanten Mix aus Menschen an. Sie macht Listen, was sie tun möchte, wo sie Kontakte knüpfen könnte. Ich finde sie später in ihrer Wohnung. Und im September soll eine Operation stattfinden, die den Krebs noch besser bekämpfen soll: eine „Pipac“, bei der Chemotherapie direkt in den Bauchraum eingebracht wird, um auch die letzten Krebszellen am Bauchfell noch zu erwischen. Drei Mal sollte diese OP minimal invasiv stattfinden.
Davor kommt meine Mutter noch einmal nach Schweden. Mit Rollator. Am Flughafen wird sie im Rollstuhl vom Flugzeug zur Empfangshalle gebracht. Aber bevor sie von uns entdeckt werden könnte, steigt sie aus und klappt den Rollator auf. Sie geht ohne Hilfe bis zu uns.

Wir haben schöne Tage in Stockholm. Das Wetter ist noch sommerlich warm. An einem Abend mit 24 Grad bietet uns ein Kollege meines Mannes an, mit uns eine Bootstour auf dem Mälaren zu machen. Wir tuckern bis vor Drottningholm. Es ist ein wunderschöner Abend. Meine Mutter trinkt schwedisches Leichtbier („lättöl“) aus der Dose, trägt Kopftuch wie Jackie O und genießt das Leben in vollen Zügen.
Nach der PIPAC-Operation bekommt meine Mutter Verdauungsprobleme
Zurück in Deutschland, soll die erste PIPAC stattfinden. Aber beim ersten Versuch kommt es nicht zur Behandlung, weil im Bauch meiner Mutter zu viele Verwachsungen stören. Diese müssen erst gelöst werden. Der zweite Versuch wird immer wieder verschoben. Als er endlich stattfindet, gelingt zwar die Behandlung, aber im Anschluss bekommt meine Mutter Probleme mit der Verdauung. Sie kann an zwei oder drei Tagen der Woche kaum etwas essen, weil ihr Bauch dann im Lauf des Tages immer stärker aufgebläht wird, was sehr schmerzhaft wird. Sie liegt dann viel und versucht, mit Wärmekissen die gefühlte Verkrampfung zu lindern. Als die Tage mit diesen Problemen immer häufiger und die Schmerzen immer stärker werden, sucht sie Hilfe: Bei einem Palliativnetzwerk aber auch bei meinem Bruder, der Arzt ist. Die ÄrztInnen sind sich uneins, was die Probleme verursacht: Der Krebs oder ein Verschluss im Darm? Ist das operabel oder nicht?
Täglich telefonieren wir, ich schicke Wollsachen, sie strickt Schals
Ich telefoniere mittlerweile jeden Abend mit meiner Mutter. Ich weiß nicht, wann ich damit angefangen habe. Irgendwann Ende 2021 oder Anfang 2022. Jeden Abend nach dem Abendessen, bevor ich meiner jüngsten Tochter vorlese, spreche ich mit ihr über WhatsApp und Kamera. Im Oktober und Anfang November 2022 geht es ihr sichtlich immer schlechter. Sie trägt schon lange eine Perücke, weil sie durch die Chemotherapie ihre Haare verloren hat. Die Perücke hat sie noch in Reutlingen gekauft – kein Echthaar, weil künstliches leichter zu pflegen und günstiger ist
Ich schicke ihr warme Merino-Unterwäsche und dicke, weiche Wollpullis und -strickjacken aus Irland, damit sie in diesen Energiesparzeiten nicht auch noch friert (ich kenne sie: sie dreht die Heizung nicht allzu weit auf als sparsame Schwäbin). Ich fühle mich hilflos und versuche, es so ein wenig zu kompensieren.

Sie wiederum beginnt, für meine ganze Familie Wollschals zu stricken. Sie war als junge Frau Au-Pair in Irland und die Wollpullis haben sie daran erinnert, wie sie dort die Aran-Muster gelernt hat. Die kann sie jetzt nicht mehr auswendig, aber sie möchte wieder etwas handarbeiten. Per Foto suchen wir gemeinsam Wolle aus.
Zuerst strickt sie für meine jüngste Tochter, dann meinen Mann und meinen Sohn, die bald ihre Geburtstage haben. Anfang November macht sie ein Päckchen mit den ersten drei Schals fertig, und bringt es zur Post.
Zu der Zeit ist unsere Zweitälteste in Hamburg bei ihrer Therapie. Ich habe sie Mitte Oktober 2022 per Nachtzug hinbegleitet. Mitte November holt mein Mann sie ab. Es geht ihr viel besser! Der Nebel im Kopf hat sich gelichtet, die Kopfschmerzen sind zwar nicht ganz weg, aber deutlich weniger. Sie kann sich besser konzentrieren und braucht nicht mehr täglich einen Mittagschlaf. Wir sind so froh!
Aber ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Deshalb sitze ich Ende November schon wieder im Zug nach Hamburg und fahre von dort aus weiter nach NRW.

Eine Woche bleibe ich und versuche, meine Mutter davon zu überzeugen, dass sie Unterstützung braucht. Regelmässig. Sie will sich einen Pflegedienst suchen. Aber sie scheint auch zu merken, dass die Zeit knapper wird. Sie möchte mit mir ihren Schmuck durchgehen, den ich erben soll. Wir schauen auch ihre Schränke durch und alte Fotos. Wir machen einen Spaziergang über den Weihnachtsmarkt, essen eine Wurst. Aber sie hat danach enorme Bauchschmerzen. Das Laufen tut ihr nicht gut. Ich koche jeden Tag für sie, sie geniesst das. Trotzdem kann sie oft nicht viel essen und bezahlt mit aufgeblähtem Bauch und Verstopfung. Manchmal sind die Schmerzen jetzt so stark, dass sie Opoide dagegen nehmen muss. Jeder Drogensüchtige wäre hellauf begeistert, wenn er ihren Arzneimittelvorrat sähe. In jedem Raum der Wohnung stehen Kisten und Kästen mit Medikamenten. Auch Cannabis gehört jetzt zum täglichen Programm. Das entkrampft.
Das Paket mit den Wollschals ist immer noch nicht in Schweden angekommen. Wochenlang ist es schon unterwegs. Ist es verloren gegangen? Ich gebe die Hoffnung noch nicht auf. Bisher kam noch alles an – wenn auch nicht immer schnell.
Alle Versuche, die Verdauung meiner Mutter in den Griff und wieder zur normalen Funktion zu bringen, verlaufen erfolglos. Es wird einfach immer schlimmer. Als ich nach einer Woche wieder fahre, fahre ich mit einem Schal für meine älteste Tochter im Gepäck und mit einem sehr unguten Gefühl. Meine Mutter plant, an Weihnachten ihren Bruder in den Niederlanden zu besuchen, gemeinsam mit meinem Bruder. Der hat die tatsächliche Lage der Dinge meiner Meinung noch nicht ganz realisiert. Er ist zwar Arzt, meint aber, es sei nicht der Krebs, der die Probleme verursache, sondern eine Blockade im Darm. Letztlich behält er damit sogar recht, nur dass sich im Januar herausstellt, dass der Darm an vielen verschiedenen Stellen verschlossen ist. Irreparabel. Im November und Dezember glaubt er noch, dass die Probleme therapierbar seien, der Darm ggf. operiert werden kann.
In den letzten Wochen von 2022 verliert meine Mutter rapide Gewicht
Ende des Jahres 2022 isst meine Mutter nur noch kleine Joghurts, etwas Kuchen oder andere Dinge, von denen sie glaubt, dass sie sie verträgt. Sie wird immer dünner. Ich kriege es nicht so genau mit, weil ich sie nur per WhatsApp sehe. Bis Januar 2023 hat meine Mutter 10kg abgenommen. Sie hatte ihr Leben lang das Gefühl, zu schwer zu sein. Es wurde ihr eingeredet von kleinauf. Jetzt ist sie plötzlich ziemlich dünn. Ich beschließe, in einigen Wochen wieder hinzufahren. An einem Wochenende Anfang Januar beginnt mein Bruder, meine Mutter künstlich zu ernähren. Sie bekommt einfach nicht mehr genug Nährstoffe. Das soll durch einen Pflegedienst fortgesetzt werden. Die ganze Küche liegt voller Utensilien dafür, als ich ankomme.

In der zweiten Januarwoche geht meine Mutter in die Uniklinik. Sie kommt auf die Palliativstation. Ihr Strickzeug hat sie dabei. Der Schal für mich ist fertig, er liegt in ihrer Wohnung. Aber an dem für meine Zweitälteste fehlen noch 20cm.
Nach einer Woche hält sie es dort nicht mehr aus. Sie will nach Hause. Ihr Bruder kommt zu Besuch. Sie liegt fast die ganze Zeit auf ihrem im Herbst neu gekauften Schlafsofa, mit Wärmflasche. Der Bauch bläht sich jeden Tag ab mittags fussballgross auf. Am Ende der Woche bringt ihr Bruder sie zurück auf die Palliativstation. Es geht nicht mehr zuhause, sie fühlt sich nicht mehr sicher dort. Sie muss regelmässig erbrechen, hat kaum noch Kraft, kann ihr Bett nicht mehr selbst beziehen, wenn sie es nicht schnell genug ins Bad schafft.
Auf der Palliativstation kümmern sich die ÄrztInnen und -pflegerInnen rührend um sie: Ein Oberarzt, der merkt, wie sehr sie unter der künstlichen Ernährung leidet, bringt ihr eine Flasche Wein mit („Sie kommen doch aus Süddeutschland, da trinken Sie doch sicher auch gern mal einen Wein!“), ein Pfleger den Öffner von zuhause. Ein Assistenzarzt nimmt sich die Zeit, sich zu ihr zu setzen und ein Glas Wein mit ihr zu trinken und sich zu unterhalten. Eine Ärztin aus einer anderen Abteilung, von der meine Mutter auch behandelt wurde, kommt vorbei, um sich zu verabschieden, weil sie die Klinik verlässt, um für „Ärzte ohne Grenzen“ zu arbeiten. Sie macht meiner Mutter Mut und sagt ihr, sie dürfe alles essen – oder es zumindest versuchen. Sie bringt sogar noch die Möglichkeit einer OP des Darmes ins Spiel. Meiner Mutter tut diese Zuwendung sehr gut.
Im Nachhinein frage ich mich trotzdem: Hat diese Ärztin wirklich daran geglaubt? Oder wollte sie meiner Mutter nur Hoffnung machen? Ist das legitim und hat es ihr geholfen? Oder war eigentlich beiden klar, dass das nur schöne Phantasien waren?
Meiner Mutter wird schon in der zweiten Woche in der Klinik ein Platz in einem Hospiz angeboten. Sie lehnt ab. Sie sieht sich noch nicht dort, findet es zu früh. Sie erwähnt, dass man ihr gesagt habe, dass man mit der intravenösen Nahrung monatelang leben könne.
Eine Woche später, in der letzten Januarwoche, komme ich in NRW an. Ich sehe meinen Bruder wieder, mit dem ich seit ungefähr 15 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er berichtet, dass es unserer Mutter schlecht gehe. Ich solle nicht erschrecken, wenn ich sie sehe. Ich besuche sie ab jetzt täglich in der Uniklinik. In den ersten Tagen wohne ich im Hotel. Meine Routine täglich: ich lasse morgens einen Covid-Test machen, hole die Post in ihrer Wohnung ab, fahre dann ins Uniklinikum, bleibe dort bis zum frühen Abend, dann radele ich zurück (Bewegung, Kopf freikriegen), esse etwas (möglichst lecker, damit ich es auch wirklich esse), beantworte Mails, erledige administrative Dinge für meine Mutter, leser meiner jüngsten Tochter über WhatsApp vor und schreibe die Ereignisse des Tages auf.
Ein paar Mal versuche ich noch, etwas für meine Mutter zu kochen oder einzukaufen: Hühnerbrühe, Ayran, frische Himbeeren und Johannisbeeren. Aber sie verträgt nichts davon. Von einer halben Tasse Hühnerbrühe bricht sie. In der ersten Woche lasse ich Handwerker in die Wohnung: Sie fügen noch eine Blende in die Einbauküche ein, die eine falsche Farbe gehabt hatte. Vor fast sechs Monaten hätte die Küche fertig sein sollen. Jetzt kann sie sie nicht mehr nutzen.
Zu den schlimmsten Aufgaben, die ich jetzt habe, gehört, dass ich einige Menschen anrufen und darüber informieren muss, wie es um meine Mutter steht. Sie hat eine Liste mit mir gemacht, auf der wir eingetragen haben „jetzt“ und „später“. Später heißt, dass diese Leute erst informiert werden sollen, wenn sie gestorben sein wird. Bei der demenzkranken Frau meines verstorbenen Patenonkels steht „sofort“. Ich erwische sie im Pflegeheim kurz vor dem Nachmittagskaffeekränzchen. Sie scheint zu verstehen, worum es geht.
Die früheren Nachbarn kommen nach dem Anruf sogar zu Besuch in die Klinik. Viele erreiche ich auch per Mail oder WhatsApp. Einige werde ich in den nächsten Wochen permanent auf dem Laufenden halten über den Zustand meiner Mutter. Irgendwann richte ich eine WhatsApp-Gruppe dafür ein, weil ich nicht mehr hinterher komme. Meine Mutter verpflichtet mich, nur zwei updates pro Woche zu schicken. Sie will niemanden nerven mit ihrem Sterben. Nachts sehe ich oft lange Filme und Serien, um mich abzulenken. Ich bin froh, allein hier zu sein. So kann ich meinen Schlafrhythmus komplett selbst bestimmen und heulen wann ich will und muss.
Gleich in der ersten Woche in NRW kommen mehrere Pakete an. Ich habe auf Wunsch meiner Mutter ein paar lockere Hosen bestellt, weil sie etwas ganz Weiches braucht, das nicht drückt. Und wie immer bestelle ich natürlich viel mehr als nötig. Ich möchte sie versorgen, ihr eine Freude machen, dazu beitragen, dass es ihr besser geht. Nützt natürlich alles nichts. Immerhin trägt sie ein paar der Sachen bei Besuchen von Freunden in der Klinik.
Das vermisste Päckchen taucht wieder auf
Das wichtigste Paket bekomme ich gleich in den ersten Tagen: Der Benachrichtigungsschein ist an mich selbst gerichtet, obwohl ich gar nicht an der Adresse meiner Mutter gemeldet bin und auch alle Bestellungen schon erhalten habe. Ich fahre zu dem kleinen Kiosk, um das Päckchen abzuholen und breche in Tränen aus, als ich sehe, was es ist: Das vermisste Paket mit den Schals! Seit Anfang November war es unterwegs (mittlerweile fast drei Monate!), und offenbar hat es es sogar bis nach Schweden geschafft: Ein Aufkleber verrät mir, dass es mindestens in Malmö gewesen ist. Und jetzt ist es wieder hier: an mich adressiert, obwohl meine Mutter die Absenderin war. Und wasfür ein Glück, dass ich gerade da bin, und es abholen kann und ausgehändigt bekomme, weil mein Name draufsteht! Ich glaube, ich habe mich noch nie so über ein Paket gefreut…

Auch meine Mutter ist natürlich sehr froh, dass es wieder aufgetaucht ist. Denn mittlerweile ist klar: Das sind ihre Abschiedsgeschenke an uns. Dennoch scheint sie noch immer nicht zu akzeptieren, dass ihr nur noch wenig Zeit bleibt. Die Ärzte und Pfleger sprechen mich darauf an in der Klinik.
Ich habe das Hotel für eine Woche gebucht, meine Rückfahrt mit dem Zug am Wochenende nach meiner Ankunft. Aber schon nach wenigen Tagen bitte ich meinen Mann, unsere Kinder darauf vorzubereiten, dass ich wahrscheinlich länger wegbleiben muss. Besonders für unsere Jüngste ist das schwer. Aber sie haben alle Verständnis. Mein Mann unterstützt mich bedingungslos und macht alles möglich. Sein Chef zeigt Verständnis, Bekannte springen hier und da ein und helfen. Ich bin allen so dankbar dafür.
Wieviel Zeit bleibt ihr – uns – noch?
Die ersten ein, zwei Wochen in Deutschland sind die schwersten. Die Ärzte sagen, sie wissen nicht, wieviel Zeit meiner Mutter noch bleibt: „ein paar Wochen – das können zwei, drei, vier oder acht sein“. Sie hat eine bakterielle Infektion im Bauchraum, deshalb war sie in der Woche, in der ihr Bruder da war, so extrem schwach. Aber das Antibiotikum, das sie auf der Palliativstation bekommt, schlägt nicht hunderprozentig an. Nach einigen Tagen wird es abgesetzt, weil man keine Resistenzen züchten darf. Verständlich. Doch die Gefahr einer Sepsis (Übergreifen der Infektion auf die Blutbahn) ist groß. Meine Mutter hat Angst davor, ich auch. Es könnte alles so schnell vorbei sein. Was schaffen wir noch bis dahin? Worüber müssen und wollen wir noch sprechen? Was muss noch geregelt werden? Die Vorstellung, dass es so schnell gehen könnte, erscheint mir furchtbar. Aus heutiger Sicht denke ich: Vielleicht wäre das besser gewesen?
Meine Mutter bekommt im Krankenhaus noch Besuch von einigen Freunden und Freundinnen. Die Besuche sind wichtig. Auch für mich, um über die Situation sprechen zu können. Denn für meine Familie ist sie sehr abstrakt so weit weg. Die Freunde, die kommen, sehen unmittelbar, wie es meiner Mutter geht.

Ich spreche mit meiner Mutter viel über ihr Leben. Sie erzählt mir einige Dinge, die ich so noch nicht wusste, die aber sehr wichtig für mich sind. Ich bitte sie, mir noch mehr zu erzählen und ihre Stimme dabei aufnehmen zu dürfen. Sie ist einverstanden. Sie erzählt von ihrer Kindheit und Jugend. Ich bin so froh, dass wir das gemacht haben, auch wenn ich mir die Aufnahmen jetzt noch nicht wieder angehört habe und sie in der Tonqualität vermutlich nicht sehr gut sind Aber es ist ihre Stimme.
Die Idee hatte ich – wie so vieles – von ihr selbst (und auch ein wenig vom „Familienhörbuch“): In ihrer Wohnung bin ich neben vielen anderen Erinnerungsstücken und Fotos auf eine Aufnahme gestoßen, die sie Ende der 1970er Jahre von meinem Bruder und mir gemacht hat. Ich habe sie angehört und mit meinem Handy aufgenommen, Teile davon an meine Familie geschickt. Denn das kleine Mädchen, das da zu hören ist, spricht breitestes Schwäbisch – meine Kinder haben sich kringelig gelacht, als sie das hörten.
Aber natürlich hängt in der Klinik immer das über uns, was kommen wird. Man wird hier gezwungen, ständig mit dem Ende zu rechnen, obwohl es so unvorstellbar ist. Der Chefarzt erwähnt in diesen Tagen – ziemlich direkt – zum ersten Mal die Möglichkeit einer „palliativen Sedierung“, also eines medikamentös eingeleiteten, künstlichen Schlafs wegen zu grosser Schmerzen oder zu großer seelischer Qualen – schlafen bis zum Tod ist das. Nahrung und Wasser werden dann nicht mehr gegeben.
Die intravenöse Nahrung wird auch jetzt schon immer weiter reduziert. Die Ärzte meinen, dass die Kalorien den Organismus belasten, es meiner Mutter schwerer als nötig machen, Übelkeit verursachen und Erbrechen. Was natürlich richtig ist. Trotzdem kann meine Mutter es kaum akzeptieren. Während sie anfangs in der Klinik noch 1500 Kcal bekommen hat, werden am Ende nur noch 750 pro Nacht angehängt. Sie hat Hunger. Der Bauch bläht immer noch.
Der „Plombier“ und die „Versorgungskompanie“
Aber der Oberarzt hat ein Händchen für das Spülen der Ablaufsonde, die meine Mutter hat: Darüber kann sowohl aus dem Magen als auch aus dem Darm Sekret (und alles, was sonst noch drin ist) ablaufen. Meine Mutter nennt den Oberarzt den „Plombier“, den Gas/Wasser/Scheisse-Installateur. Das war eines ihrer ersten französischen Wörter; gelernt, als wir 1990 nach Belgien gezogen sind. Sie hat dort an einer Deutschen Schule unterrichtet. Im NATO-Hauptquartier. Wir brauchten in den ersten Wochen gleich einen Installateur, weil irgendein Abfluss verstopft war. Der Spitzname wird zum „running gag“ zwischen ihr und dem Arzt. Er hat Humor, sie auch. Seit Belgien hieß meine Mutter bei uns oft die „Versorgungskompanie“.

An einem Wochenende, an dem der Oberarzt frei hat, wird die Spülung allerdings von den Vertretern nicht erfolgreich durchgeführt und meine Mutter hat schreckliche Schmerzen wegen des aufgeblähten Bauchs am Montag morgen. Deshalb lasse ich mir nach einigen Tagen von dem Oberarzt zeigen, wie die Spülung gemacht wird und übernehme es selbst, wenn kein anderer Zeit hat.
Meine Mutter fühlt sich auf der Palliativstation gut versorgt und sicher. Deshalb kommt es wie ein Schock, als wieder ein Zimmer im Hospiz frei wird und ihr gesagt wird, dass sie am nächsten Tag verlegt wird. Zu dem Zeitpunkt ist sie seit zweieinhalb Wochen in der Klinik.
Der letzte Umzug: ins Hospiz
Am 1. Februar 2023 wird sie ins Hospiz gebracht. Ihr letzter von ca. 30 Umzügen. Ich bin noch nicht da, als sie ankommt, weil ich noch ein paar Blumen besorgen wollte und separat fahre. Sie kommt im Krankentransport. Eine Pflegerin erzählt mir, dass meine Mutter bei der Ankunft geweint hat.
Die ersten Tage verbringt meine Mutter in einem kleinen, dunklen Zimmer ganz am Ende des Flurs. Sie kann kaum schlafen, weil die Apparate im Hospiz alle alt sind und die Ärztin, die nun für sie zuständig ist, alle Medikamente getrennt geben lässt – anders als in der Klinik, wo mehrere vermischt wurden. Das bedeutet, dass ständig irgendjemand herein kommt, etwas anhängt, das nach einer halben Stunde durchgelaufen ist, was das Gerät mit durchdringendem Piepen anzeigt. Auch piept es jedes Mal, wenn irgendjemand im Hospiz die Klingel betätigt. Alle Zimmer sind über ein System miteinander verbunden, damit die PflegerInnen sehen und hören können, falls es irgendwo Alarm gibt.
Meine Mutter braucht noch einen neuen Zugang, über den sie Spritzen bekommt. Es dauert Tage, bis sich eine neue Routine einstellt und alles so läuft, dass sie nachts zur Ruhe kommen kann – wenigstens ein paar Stunden abschalten. Manche Pflegerinnen im Hospiz fühlen sich durch mein Angebot, die Spülungen selbst zu machen bzw. zu zeigen, wie sie mir im Krankenhaus beigebracht wurden, bevormundet und in Frage gestellt. Dabei ist das gar nicht meine Absicht. Ich möchte nur meiner Mutter eine ihrer größten Sorgen nehmen: Sie befürchtet, dass sie wieder solche Schmerzen wie an dem einen Wochenende bekommen könnte, wenn es nicht richtig gemacht wird.

Ich richte das Zimmer meiner Mutter ein: Ein grosses Bild und einen kleinen Holztisch von zuhause bringe ich ihr mit. Auf dem Tisch drapiere ich frische, frühlingshafte Blumen. Sobald sie welken, besorge ich neue. Im Hospiz darf man – anders als im Krankenhaus – auch Topfpflanzen aufstellen, nicht nur Schnittblumen. Die große Freiheit. Auch sonst soll hier ja angeblich alles nach den Wünschen und Gewohnheiten der „Gäste“ (denn hier ist man nicht mehr „PatientIn“) gehen: gleicher Tagesablauf wie zuhause und so. Tatsächlich sehe ich wenig davon. Individualisierung ist bei so viel Pflegebedarf schwierig. Das Hospiz ist unterfinanziert durch die Tagessätze der Krankenkasse. Selbst bei Privatpatienten. Am Bett meiner Mutter befestige ich Leuchtkugeln, auch zwischen die Blumen lege ich eine Leuchtkette, die abends ein gemütliches Licht macht. Der Hausmeister hilft beim Aufhängen des Bildes – ein Stuttgarter Park ist darauf zu sehen. Ein kleines Stück Heimat.
Ein weiterer harter Schritt: Die eigene Beerdigung planen
Der Pfarrer kommt vorbei und bespricht mit meiner Mutter ihre Beerdigung. Das fällt ihr sehr schwer. Selbst hier im Hospiz kann sie noch nicht annehmen, was ihr widerfährt: diese widerliche Krankheit, die Übelkeit, das ständige Erbrechen, dass sie nichts mehr essen kann und daran sterben soll… mit gerade mal Ende 70. Ihre Mutter und ihre Großmutter wurden fast zwanzig Jahre älter.
Aber der Pfarrer stellt gleich am Anfang eine gute Frage, weil er gehört hat, dass sie auch Märchenerzählerin war: Ob es eine Geschichte gäbe, an die sie gedacht habe, als sie die Krebsdiagnose bekommen habe? – Und ja, die gibt es:
Meine Mutter, die ihr Leben lang ein Faible für Märchen hatte, hat an ein chinesisches Märchen gedacht (Das Feuer auf dem Berg, leider kein Link gefunden). Es handelt von zwei Freunden: einer frei, der andere Leibeigener. Eines Tages bekommt der Leibeigene die Möglichkeit, sich seine Freiheit zu verdienen: Falls er auf einen sehr hohen Berg steige, eine Nacht oben bliebe und lebend wieder herunterkäme, sei er danach frei. Sein Freund verspricht ihm, zeitgleich auf den Berg gegenüber zu steigen und ein Feuer für ihn zu entzünden, das er sehen kann. Der Leibeigene steigt auf den Berg, sieht das Feuer und schafft es, die ganze Nacht über im eiskalten Schnee stehen zu bleiben und nicht zu erfrieren, weil er gegenüber das Feuer lodern sieht, das sein Freund für ihn entfacht hat.
Meine Mutter sagt, sie habe gewusst, dass sie diese Krankheit nicht alleine durchstehen müsse. – Erst als ich das höre, wird mir bewusst, dass meine täglichen Anrufe wahrscheinlich viel wichtiger für sie waren als mir das klar war.
Als der Pfarrer gegangen ist, hat er nicht nur eine Bibelstelle und das chinesische Märchen, an denen er seine Predigt aufhängen können wird. Er hat meine Mutter so erlebt, wie sie ist und nach ihrem Tod in Kondolenzschreiben von vielen Menschen beschrieben wird: klar, willensstark, intelligent, mutig. Er ist sichtlich beeindruckt.
Nach einigen Tagen bekommt meine Mutter ein größeres und helleres Zimmer auf der anderen Seite des Gebäudes. Der Leiter des Hospizes lässt sich dafür feiern – ein befremdlich eitler Mensch, der uns ganz am Ende noch seine hässlichste Fratze zeigen wird.

Das neue Zimmer ist ruhiger, es piept jetzt nicht mehr so oft. Auch die hausinterne Anlage scheint hier weniger Geräusche zu machen. Vielleicht haben wir uns aber nur daran gewöhnt.
Auch hier bekommt meine Mutter noch Besuch. Eine treue Freundin und ihr Mann kommen schon zum dritten Mal in diesen Wochen. Mit ihnen macht meine Mutter ihren letzten Ausflug in den Garten. Es ist schon fast Frühling: Die Schneeglöckchen blühen, die Osterglocken fangen damit an. Aber die Wiese und der Wald, an dessen Rand das Hospiz liegt, sind noch mehr grau als grün.
Meine Mutter wird kontinuierlich schwächer. Ab dem 21. Februar 2023 verträgt sie auch die intravenöse Nahrung nicht mehr. Sie erbricht, sobald sie ein wenig davon intus hat. Trotzdem hat sie permanent noch Hunger. Das ist selten so in diesem Stadium, sagt man uns. Leider könne man dagegen nichts tun. Trinken geht noch in kleinen Mengen. Eiskalte Cola verträgt sie am besten.
Der letzte Nachmittag bei Bewusstsein: ihr 77. Geburtstag
Der Bruder meiner Mutter kommt noch zwei Mal und zum 77. Geburtstag meiner Mutter am 1. März reist meine Familie aus Stockholm an. Alle fünf Enkel (meine vier Kinder und der Sohn meines Bruders), mein Bruder, mein Mann und ich feiern mit ihr diesen Tag, soweit man in dieser Situation feiern kann. Vom Sekt und vom Kuchen probiert meine Mutter winzige Stückchen bzw. Schlückchen. Wir erzählen ihr alle unsere Lieblingserinnerungen, die wir mit ihr verbinden. Wir machen Fotos und Filme. Freunde haben Blumen geschickt.

Nur mein Bruder und ich und das Hospizpersonal wissen, dass sich meine Mutter am nächsten Tag palliativ sedieren lassen wird. Die Ärztin kam am Vormittag des Geburtstages, um mit ihr darüber zu sprechen, wie das abläuft. Meine Mutter will nicht mehr. Sie möchte keinen knurrenden Magen mehr vor Hunger. Sie möchte keinen Kot mehr erbrechen. Sie möchte nicht mehr merken, wie sie täglich schwächer wird. Als sie ins Hospiz eingeliefert wurde, konnte sie noch mit Hilfe zur Toilette ins Bad gehen. Einige Tage später nur noch auf den WC-Stuhl. Und an ihrem Geburtstag war nur noch die Bettpfanne möglich. Diese fortschreitenden Einschränkungen findet sie furchtbar. „Immer wird noch mehr weggenommen“, sagt sie.
Der Tag der Sedierung
Am Tag der Sedierung erfahren wir, dass die Ärztin, die mit meiner Mutter gesprochen hat, Covid hat. Eine andere wird kommen. Wir haben sie noch nie gesehen. Auch meine Mutter nicht. Die Pflegerin, die meine Mutter als Bezugspflegerin betreut hat und die meine Mutter sehr gern mag, hat überraschend frei bekommen für den Tag. Sie hat sich schon am Vorabend von meiner Mutter verabschiedet. Stattdessen ist die da, die immer ein bisschen merkwürdig war, der meine Mutter nicht wirklich vertraut.
Mein Bruder und ich gehen davon aus, dass meine Mutter nach Beginn der Medikamentengabe innerhalb recht kurzer Zeit einschlafen wird. Wir gehen auch davon aus, dass die Ärztin eine Weile dabei bleiben wird. Denn so ähnlich hörte sich das im Vorgespräch an. Auch wenn die Ärztin meinte, dass sie nicht exakt sagen könne, wie es ablaufe, falls sie es nicht selbst machen würde – das stünde noch nicht fest (da wusste sie noch nichts von Covid, es ging nur um die interne Organisation im Palliativnetzwerk).
Als die unbekannte Ärztin kommt, schaut sie nur kurz herein. Sie macht einen sehr selbstbewussten Eindruck, meine Mutter ist zufrieden, weil sie den Eindruck hat, dass diese Frau weiß, was sie tut. Sie findet ihr direkte Art gut. Mein Bruder tippt darauf, dass sie Anästhesistin ist. Er hat recht wie sich später herausstellt.
Das Einschlafen dauert viel länger als erwartet
Die Behandlung beginnt irgendwann am Vormittag. Wir warten schon seit acht Uhr, weil keiner uns einen konkreten Termin nennen konnte, zu dem die Ärztin im Haus sein würde. Die Ärzte des Palliativnetzwerkes müssen häufig zu Notfällen. Mein Bruder hat seine Praxis für den halben Tag geschlossen. Im Lauf des Tages wird er noch allen seinen Patienten absagen.
Als es losgeht, wird die Dosis des Medikaments schrittweise erhöht, je nachdem wie meine Mutter darauf reagiert. Zunächst tut sich nicht viel. Sie wird nur „lustig“, redet fröhlich mit uns, dass sie heute abend mit uns essen gehen möchte. Sie meint, dass das hier „eine gute Sache“ sei. Langsam wird ihre Sprache verwaschener. Sie döst ein. Ich denke, das war es jetzt und muss weinen. Es irritiert mich, als meine Mutter immer wieder wach wird und mit uns spricht.
Sie behält ihren Humor bis zum Schluss
Die zuständige Pflegerin kommt regelmässig herein und passt die Dosis an, wenn meine Mutter bei Ansprache noch aufwacht. Irgendwann ist die Sprache meiner Mutter kaum noch verständlich, wenn sie versucht, uns etwas zu sagen. Trotzdem macht sie noch Witze: „Kulinarisch war es eher ein Reinfall hier…“ Die Ärztin kommt nochmal herein, bleibt aber nur wenige Minuten am Bettende stehen, dreht sich dann weg und geht raschen Schrittes hinaus. Irgendwann ist es nach Mittag und meine Mutter scheint immer noch nicht tief zu schlafen. Als es einmal piept, macht sie ein Auge auf und dreht den Kopf in Richtung des Geräts.
Gegen 13:45 Uhr kommt die Pflegerin und verkündet, dass sie nun alles auf Anweisung der Ärztin so belassen würde für einige Zeit. Ich verstehe das nicht, mein Bruder ist ebenfalls skeptisch. Wir erwähnen, dass unsere Mutter unserer Meinung nach noch nicht wirklich tief schläft. Wir hätten kein gutes Gefühl, sie so zurück zu lassen. Ich fange an, nach dem Medikament und seiner Wirkweise zu googlen. Offenbar ist es eins, das in den USA auch zum Vollzug der Todesstrafe genutzt worden ist. Eine Überdosierung kann also zum Tod führen. Das soll nicht passieren bei der palliativen Sedierung, die sowieso ein juristischer Graubereich (siehe auch: hier) ist.
Dennoch kommt es mir komisch vor, dass nun nichts mehr an der Dosierung geändert werden soll. Denn wir wollen ja nicht, dass meine Mutter noch merkt, dass sie Hunger und Durst hat: Sobald jemand palliativ sediert ist, bekommt er kein Wasser mehr zugeführt, die Menschen verdursten letztlich also.
Der Worst Case: eine Auseinandersetzung mit dem Hospiz
Mein Bruder bittet darum, mit der Ärztin zu telefonieren. Die ist nicht mehr im Haus. Sie ruft eine Stunde später zurück. Da ist es schon kurz vor 15 Uhr. Ich bekomme mit, dass das Telefonat nicht freundlich beendet wird. Mein Bruder erzählt mir, dass die Ärztin nicht bereit sei, die Dosis zu erhöhen, ihr reiche der Zustand, den meine Mutter erreicht habe. Er sagt, dass er ihr gegenüber deshalb angedeutet habe, sie von ihren Behandlungspflichten meiner Mutter gegenüber zu entbinden und selbst wieder die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ich rege an, dass er das mit dem Personal des Hospizes bespricht, denn wir wollen keinen Konflikt. Er geht zum Zimmer der PflegerInnen und erfährt dort, dass die Ärztin offenbar entgegen ihrer Ankündigung doch eine erneute Erhöhung der Dosis und ein zweites Medikament angeordnet hat, das den Schlaf vertiefen soll.
Plötzlich klopft es an der Tür und der Leiter des Hospizes fragt, ob er hereinkommen dürfe. Mein Bruder und ich schauen uns an, reagieren nicht sofort, denn er hat sich bisher als wenig hilfreich erwiesen, und wir wollen in dieser Situation eigentlich allein sein mit unserer Mutter. Er kommt dennoch einfach herein und sagt, er müsse mit uns sprechen. Ich frage, ob wir beide dafür anwesend sein müssten oder ob das einer von uns draußen – nicht in Anwesenheit meiner Mutter – mit ihm besprechen könne.
Der Hospizleiter droht, uns mit unserer sterbenden Mutter hinauszuwerfen
Man sagt, dass der Hörsinn der letzte Sinn ist, den ein Mensch verliert und geht davon aus, dass auch Menschen im palliativen Schlaf noch hören, was um sie herum passiert. Ich möchte nicht, dass meine Mutter Missstimmungen mitbekommt. Und hier scheint es welche zu geben. Er will nicht nur mit einem von uns sprechen. Aber mein Bruder bestimmt einfach, dass er mit rausgeht, und ich bei unserer Mutter bleiben kann. Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Die beiden verlassen den Raum. Als mein Bruder zurückkommt, erzählt er, dass der Leiter ihm angedroht habe, uns mitsamt unserer Mutter umgehend hinauszuwerfen, wenn er die Behandlung unserer Mutter wieder selbst übernähme. Es sei dem Mann egal, wo wir dann hingingen. Ich bin ziemlich fassungslos.
Was passiert hier?
Was ist hier los? Warum läuft das so schief? Wir sind in einer absoluten Ausnahmesituation, keiner hat uns vorher erklärt, wie lange die Sedierung dauern würde, die durchführende Ärztin hat mit uns kaum ein Wort gewechselt, sich nur zwei Mal weniger als fünf Minuten in den Raum gestellt. Wir haben so etwas noch nie mitgemacht und verlieren gerade unsere Mutter. Und dann machen die hier so einen Konflikt auf? Warum erklärt uns niemand, am besten die Ärztin, wie sie vorgehen wollen, welcher Bewusstseinszustand erreicht werden soll bei meiner Mutter, welche Anzeichen sie dafür sehen, ob er erreicht wurde?
Meine größte Befürchtung: eine mangelhafte Sedierung
Das Problem ist ja, dass bei einer Sedierung bis zum Tod niemand mehr im Nachhinein feststellen kann, ob der oder die Verstorbene noch etwas mitbekommen hat oder nicht. Ob er bzw. sie sich vielleicht „gefangen“ gefühlt hat, unfähig war, sich auszudrücken, aber dennoch gelitten hat unter irgendetwas: Schmerzen, Hunger, dem Legen eines Katheters, der Stimmung im Raum, dem Gefühl, allein zu sein. Im Gespräch mit der bisher für meine Mutter verantwortlichen Ärztin, die nun Covid hat, hatte ich genau diese Befürchtung geäußert, dass meine Mutter noch etwas mitkriegen und darunter leiden könnte, wenn sie sediert ist. Sie hatte mir versichert, dass sie alles dafür tun würde, sicherzustellen, dass das nicht passiert. Aber diese Ärztin ist jetzt nicht die, die die Sedierung durchführt.
Wenn der Bock zum Gärtner gemacht wird
Und dieser Hospiz-Leiter, der ironischerweise für die Seelsorge im Haus verantwortlich ist, scheint nicht in der Lage oder Willens zu sein, uns in irgendeiner Form zu entlasten und zu deeskalieren. Im Gegenteil: Er steht kurz nach dem Gespräch mit meinem Bruder plötzlich schon wieder im Zimmer am Bettende meiner Mutter. Aus meinem Gedächtnisprotokoll, das ich am gleichen Tag angefertigt habe:
„Leiter: „Ich möchte das eben Gesagte noch ergänzen. Wir haben ja auch viel Erfahrung und sie, wie sie hier sitzen (zeigt auf meine Hand, die Hand meiner Mutter hält), sollten ihrer Mutter vielleicht auch mal mehr Raum geben. Mit ständigen Störungen kann sie ja auch nicht in tiefen Schlaf kommen.“
Ich: „Die letzte Störung war ein piependes Gerät und da hat sie ein Auge geöffnet und den Kopf zur Seite gedreht…“
Er erwidert irgendetwas. Ähnlich wie der letzte Satz.
Ich: „Sie wollen jetzt aber nicht sagen, dass wir verhindern, dass meine Mutter tief genug einschläft?“
Er: „Ich nehme hier viel Druck wahr. Sie wollen Ihren Abfahrtstermin morgen schaffen, die Sedierung sollte möglichst heute um halb acht stattfinden…“
Ich bin völlig entgeistert. Mein Bruder sagt: „Das war nur eine Frage, ob das da stattfinden kann!“ (Mein Bruder hatte das tatsächlich gefragt, weil er davon ausging, dass es nur zwei Stunden dauern würde und er seinen Verpflichtungen in seiner Praxis gegenüber seinen eigenen PatientInnen auch nachkommen muss.)
Ich: „Das war der ausdrückliche Wunsch meiner Mutter, dass ich abfahre, wenn sie schläft. Ich wäre auch länger geblieben! Wie kommen Sie zu so einer Aussage?!“
Ich kann nicht mehr weitersprechen, weine, versuche tief zu atmen und ignoriere ihn.
Mein Bruder sagt: „Könnten Sie dann jetzt bitte gehen, wir wollen mit unserer Mutter allein sein.“ Der Leiter geht.“
Schlimmer hätte es wohl kaum laufen können am Ende. Zum Glück war durch die Erhöhung der Dosis des sedierenden Medikaments und das weitere Medikament, das gegeben wurde, nachdem mein Bruder mit der Ärztin telefoniert hatte, zu dem Zeitpunkt dann aber doch ein Zustand bei meiner Mutter erreicht, in dem wir davon ausgehen konnten, dass sie wirklich tief schläft. Wir haben uns deshalb kurz nach dieser Szene von meiner Mutter verabschiedet und sind gegangen. Für mich war es das letzte Mal, dass ich meine Mutter gesehen habe.
Am Samstag bin ich zurück in Stockholm, in der Nacht stirbt meine Mutter
Zwei Tage später war ich mit meiner Familie zurück in Stockholm, in der Nacht zum Sonntag ist meine Mutter gestorben. Bei der ersten Kontrollrunde der Pflegerin atmete sie noch, bei der zweiten nicht mehr. Es ist der 16. Geburtstag meiner zweitältesten Tochter. Das Leben nimmt echt keine Rücksicht. Wir feiern den Geburtstag und ich erzähle den Kindern erst am Abend, dass ihre Oma gestorben ist.

Seitdem hat mich der Alltag wieder voll im Griff. Es gibt so viel zu tun. Das Übliche in einer großen Familie, aber zusätzlich steht unser Umzug zurück nach Deutschland im Sommer bevor. Dafür muss schon jetzt viel vorbereitet, beantragt, aussortiert, geplant, in die Wege geleitet werden. Und dann natürlich die Bestattung… und die Trauerkarte soll einen besonderen Entwurf bekommen. Ich muss viel mit meinem Bruder absprechen. Wahrscheinlich kommen nur wenige der weit verstreuten Freundinnen und Freunde zur Beerdigung. Das macht mich traurig.
Aber ich habe das Gefühl, dass es kaum Raum für Trauer und Verarbeitung gibt. Je länger die Zeit zurückliegt, die ich mit meiner Mutter so intensiv verbracht habe, desto stärker scheine ich mich von meinen Gefühlen dazu zu entfernen. Ich weiß nicht, wie das weitergehen wird. Aber gut kann es nicht sein, wenn das alles nicht rauskommt, denke ich.
Das Pflegepersonal im Hospiz war toll
Was mir noch wichtig ist, zu sagen: Abgesehen von dem Leiter des Hospizes, waren die Pflegekräfte dort fast alle sehr nett, zugewandt und wertschätzend. So hat eine Pflegerin, die am Anfang ziemlich pikiert reagiert hatte, als ich ihr die Spülung der Sonde zeigen wollte, mich irgendwann zur Seite genommen nach einigen Wochen meiner täglichen Anwesenheit im Hospiz. Sie fragte mich, ob ich eigentlich wisse, was ich gerade leistete, wie toll das sei, und dass das nur ganz wenige täten.
Ich schreibe das nicht, um mich selbst zu loben, sondern um klar zu machen, dass das sonstige Personal im Hospiz kein Problem mit mir oder uns hatte. Im Gegenteil: Wir hatten gegenseitig grossen Respekt und Vertrauen zueinander. Während es am Anfang noch skeptisch beäugt wurde, dass ich überhaupt etwas zu den Spülungen sagen wollte, waren die Pflegerinnen am Ende dankbar, wenn ich das einfach übernahm und ihnen damit einiges an Zeit ersparte. Es wurde ganz normal.
Gemeinsame Lektüre, Handarbeit, Trauer vor dem Tod

Ich selbst habe es als selbstverständlich empfunden, da zu sein. Obwohl meine Mutter und ich auch viele schwierigere Zeiten miteinander erlebt haben. Es war gut für mich selbst – nicht nur für meine Mutter, dort zu sein. Wir hatten viel Zeit miteinander, die wir sinnvoll verbracht haben. Ich habe meiner Mutter noch zwei Bücher vorgelesen. Sie hat mir gezeigt, wie ich den Schal für meine zweitälteste Tochter fertigstricken konnte – und ich habe es geschafft (wenn auch nicht fehlerfrei). Als meine Kinder kamen, waren alle Schals bereit zum Anziehen.
Ich konnte schon einiges verarbeiten, während ich noch in NRW war, weil ich mit den Freundinnen und Freunden meiner Mutter sprechen konnte und auch viel mehr Zeit für mich selbst hatte als jemals zuhause. Und so viel ist zwischen den Zeilen gesprochen worden. Zwischen meiner Mutter und mir war am Ende alles gut.
Meine Mutter hat sich geborgen gefühlt und beschützt durch die Anwesenheit ihre zwei Kinder, nie ausgeliefert. Ihre Entscheidung, sich sedieren zu lassen, hat sie bei völlig klarem Verstand getroffen und damit ihr Leben genau so beendet, wie sie es auch gelebt hat: selbstbestimmt und in Würde.
Buchtipp: Mein Mann hat mir während der Zeit in Deutschland ein Buch geschenkt. Es handelt vom Tod, von der Liebe und vom Dazwischen: Pulitzerpreis-Gewinnerin Kathryn Schulz, „Lost & Found“. Hier eine Rezension (auf Englisch, das Buch ist ebenfalls bisher nur auf Englisch erschienen). Ich kann es nur wärmstens empfehlen. Schulz erzählt darin vom Tod ihres Vaters, davon, wie sie ihre Frau kennengelernt hat und verwebt diese beiden Geschichten aufs Kunstvollste. Tröstlich, hoffnungsvoll und damit das Beste, was man in so einer Zeit lesen kann.